Westfalenpost Hagen vom 26.09.2022

 

 

Dortmund. 

 

Die Dortmunderin Cornelia Lange ist hauptberuflich Aktenordnerin. Sie hilft, Papierberge zu sortieren. Ihr Geschäft brummt! Im Digitalzeitalter?

 

Cornelia Lange hört es nicht gern, wenn ihre Kunden sie „Dortmunds Marie Kondo des Papierkrams“ nennen. Sie sei kein Ordnungscoach fürs Büro, sagt die 65-Jährige, die sich in der Ruhrgebietsstadt mit ihrem Sortier- und Büro-Service einen guten Ruf als Aufräumprofi erarbeitet hat. Sie hilft Menschen, die Zettelwirtschaft, den Papierberg an Dokumenten, ich dem man zu versinken droht, zu sortieren und griffbereit zur Verfügung zu stellen. „Die Aktenordnerin“, wie ihre Dienstleistungsfirma heißt, ist manchmal die letzte Rettung für Privatpersonen und Kleinbetriebe. Das Geschäft brummt. Wie kann das im digitalen Zeitalter sein?

 

Cornelia Lange bei der Arbeit zuzusehen, hat schon etwas Meditatives: Sie nimmt jedes Blatt einzeln in die Hand. „Da darf mir nichts entgehen“, sagt sie. Genauigkeit bis auf den i-Punkt sei gefragt. „Und natürlich absolute Diskretion.“ Bevor sie mit den Unterlagen der Kunden zu sich nach Hause fährt, verabschiedet sie sich nicht selten mit dem Satz: „Ich ordne, Sie leben.“

 

Kampf bis zur letzten Quittung

 

Im Stehen verschafft sich die Aktenordnerin einen Überblick über den Zettelwust, über Versicherungspolicen, Rechnungen, Mahnungen. Zäh, über Stunden. Dabei taucht sie Minute für Minute tiefer in die Materie ein, sammelt Papierhaufen, unterteilt die Unterlagen in verschiedene Kategorien, sortiert sie nach Themen und Unterthemen, immer feiner und feiner und feiner… – und heftet am Ende bis zur letzten Quittung alles ab.

 

Die meisten ihrer Kunden, erzählt die gebürtige Düsseldorferin, buchten sie aus Zeitgründen. „Das Durchschnittsalter beträgt 50 Jahre“, berichtet die Dortmunderin. Ihre älteste Kundin ist 90. Sie hat sich von Cornelia Lange ihre Kranken- und Rentenunterlagen sortieren und abheften lassen und war froh, dass der 60 Jahre alte Mietvertrag durch Langes Wirken wieder aufgetaucht ist. Pro Einsatz investiert die 65-Jährige durchschnittlich 40 bis 50 Stunden. 20 bis 25 Euro pro Stunde nimmt die Aktenordnerin. „Gut angelegtes Geld“, sagt die Geschäftsfrau, deren Kunden sie über ihre Website (dieaktenordnerin.de) kontaktieren können. Darunter Ärzte, Personal-Trainer, Handwerker, Freiberufler.

 

Nichts für kreativ arbeitende Menschen

 

Die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin hat einige Jahre in New York, Genf und London gelebt. Zehn Jahre lang hat sie für eine US-Firma in der Personalabteilung gearbeitet, bevor sie sich selbstständig machte. Für Geschäfts- und Privatkunden bietet sie auch eine vorbereitende Buchhaltung an und erledigt vieles, was der Steuerberater auch bearbeiten würde. „Am Ende meiner Tätigkeit braucht der Steuerberater nur noch zu buchen“, so die 65-Jährige.

 

Wird die Aktenordnerin gerufen, kümmert sie sich um Renten-, Immobilienunterlagen und vieles mehr. Nicht selten ist sie der rettende Engel für Menschen in Not, die im Falle einer Scheidung, eines Todesfalles, allgemein bei Erbangelegenheiten durch ihr Wirken gewappnet sind und sich unnötigen Stress bei der Beschaffung von Dokumenten ersparen können.

 

Ordnen aus Passion

 

Cornelia Lange hat sich bewusst gegen einen Rentenalltag entschieden. „Ich möchte meinen Beruf weiter ausüben, aktiv bleiben“, erzählt die Frau, die nicht vom Aufräumen leben muss. Sie macht es gerne, „aus Passion“. Und wenn ein besonders schwieriger Auftrag kommt? „Dann ist es eine Herausforderung“, sagt die 65-Jährige.

 

„Ein kreativ arbeitender Mensch würde wahrscheinlich an der Aufgabe verzweifeln“, berichtet Cornelia Lange. Für den Job brauche man ein „starkes Gefühl für Ordnung“. Sie jedenfalls findet ihre Arbeit im 21. Jahrhundert nicht aus der Zeit gefallen. Zwar bringe sie auch digital Ordnung ins Leben anderer Menschen, aber Dokumente auf Festplatte zu bannen, das komme eher selten vor. Nachhaltig sei das nicht, gesteht sie, „aber ich drucke immerhin auf Vorder- und Rückseite“.

 

Gepresste Zettelwirtschaft

 

Mehr als fünf Stunden kann Cornelia Lange ihrer Arbeit als Aktenordnerin nicht nachgehen. „Ich muss immer hochkonzentriert zu Werke gehen“. Bisher habe sie aber noch jeden Papierberg geschafft, einmal sogar eine in 35 Umzugskisten gepresste Zettelwirtschaft. Nur fehlende Unterlagen, die könne sie nicht sortieren.

 

„Ich liebe es, strukturiert zu arbeiten“, betont die Aktenordnerin und fügt lachend hinzu: „Privat kann ich durchaus lockerer sein.“ Zum Schluss gibt Cornelia Lange noch den Tipp, „den einen Ordner“ immer griffbereit zu haben. Sie hat ihn: „Da steckt mein Leben drin. Wenn es brennt, bin ich mit ihm in Windeseile aus dem Haus.“

 

Hintergrund

 

Christian Henrich-Franke (Foto), der an der Universität Siegen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Medientechnologien forscht, überrascht die Langlebigkeit von Aktenordnern und Papier nicht: „Das hat etwas mit kultureller Prägung zu tun. Papier begleitet uns seit der Antike, die Speichermedien erst seit wenigen Jahrzehnten“, berichtet der 47-Jährige.

 


Christian Henrich-Franke forscht an der Universität Siegen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Medientechnologien. 

 

Die Praktik, mit Papier umzugehen, sei tief in uns verankert, so der gebürtige Siegener. „Papier in der Hand zu halten, abzuheften gibt Menschen zusätzlich ein Gefühl von Sicherheit.“ Hinzu käme, dass das Vertrauen in Papier größer sei als in elektronische Speichermedien. Aktenordner könnten nun einmal jederzeit auch ohne Strom- und Netzanschluss aus der Ecke geholt werden. Auch müssten sich die Menschen bei Papier keine Sorgen machen, Jahrzehnte später bei der Suche nach wichtigen Dokumenten aufgeschmissen zu sein, sagt Henrich-Franke. „Dagegen sind die digitalen Technologien in einer viel schnelleren Taktung durch ihren eigenen technischen Fortschritt bedroht.“ Die Übertragung von einem zum anderen System erweise sich als immer größer werdendes Problem. Der Datenverlust nehme zu.

 

„Papier und somit Aktenordner werden sich noch lange halten“, ist sich der Siegerländer sicher und verweist auf die Bundespost, die Mitte der 80er Jahre bereits das papierlose Büro zu früh ausgerufen hatte.

 

Für Christian Henrich-Franke spielen auch die zunehmenden Verwaltungsaufgaben eine Rolle, die fast alle Lebensbereiche erreicht hätten: „Selbst im kleinsten Kindergarten sind die Erzieherinnen angehalten, die Entwicklung der Kinder zu dokumentieren – und letztlich auch abzuheften.“ Der Speicherbedarf wächst und somit auch der Bedarf an Hilfe durch Büro-Service-Kräfte.


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